Helferreise nach Ritschow vom 9.-15.4.2014

Reisebericht von Renate Griesser, Gastmutter 2013

Vier Belarusfreunde: Hedi und Alexander Müller, Renate Griesser und Julia, Vorsitzende des Vereins in Belarus und Abschlussstudentin in Minsk, steigen in den gemieteten Skoda und fahren über die Autobahn durch lichte Birken- und Kieferwälder, an dunklen Moorfeldern und Kalibergwerken vorbei in den Süden Weißrusslands. Wir steigen ab im Hotel Weka im Zentrum von Schitkowitschi, der Heimatstadt Julias. Mein Zimmer füllt ein Großraumkühlschrank aus, gekrönt mit einem Fernseher. Dafür ist das Bett klein und die dünne Decke verspricht bei den kühlen Temperaturen wenig Warmes. Dusche und Toilette sind benutzbar, aber nicht immer fließt genügend warmes Wasser. Wir frühstücken jeden Morgen bei Julias Familie, die uns in ihrer Wohnküche mit Blinis, Schwarzbrot, Fleisch, Käse und Eierspeisen verwöhnt. Es duftet nach frisch gebrühtem Kaffee und der Tagesplan wird erstellt. Hedi verteilt die Spendengelder für die Studenten, die Schule in Ritschow und klärt ab, welche Personen dringend Unterstützung brauchen. Julia übersetzt und sagt Alexander, dem guten Fahrer, die richtige Position an. Sie bereitet auch die Quittungen vor, die jede Spende dokumentiert.

Unser erster Besuch ist das Krankenhaus in Schitkowitschi. Herzlich werden wir vom Chirurgen und dem Direktor empfangen und glücklich halten sie bald neue Instrumente (mitgebrachte gespendete Scheren und Pinzetten für Chirurgen) in Händen. Die Innenausstattung des Krankenhauses ist sehr renovationsbedürftig, ein Blick in die Toiletten und Waschräume überzeugt uns von Millionen Keimen, ebenso der Blick in die Krankenzimmer, beschmutzte Bettlaken, rostige Betten, überall Lebensmittel zur Verpflegung jedes Patienten. Es gibt ein uraltes Gastroendoskopiegerät für Erwachsene und keine Endoskopieschläuche für Kinder, eine Horrorvorstellung für uns. Es fehlt am Notwendigsten in diesem Krankenhaus.

Weiter geht es ins Gymnasium, wo uns die adrette Leiterin Ludmilla in einem Kostüm freudig empfängt. die Ringe unter ihren Augen sprechen für sich, sie fühlt sich verantwortlich für das Wohl ihrer Schüler und hilft wo sie kann, aber auch sie verdient als Lehrerin und Direktorin nur etwa 300 €. Daneben die privaten Sorgen, ihr Sohn verunglückte im Auto, musste im Krankenhaus endlos auf ein Beatmungsgerät warten, er hatte eine Lungenquetschung. Zu allem Unglück bekam er durch die Bluttransfusion eine Hepatitis C.

Vier neue Studenten freuen sich auf die 50 € monatliche Unterstützung ab Studienbeginn im September 2014. In der dunklen Schuluniform, lila Hemd und glänzenden schwarzen Schuhen (bei den matschigen Wegen ist mir das ein Rätsel), hört Sascha aufmerksam Julias Worten zu, er ist Waise und will Physik studieren. Neben ihm sitzen schüchtern zwei Abiturientinnen: Natascha, die einen behinderten Bruder hat und, wie die anderen Bewerber, gute Noten vorzuweisen hat. Eleonore hat drei Geschwister und kommt aus einer armen Familie, die vierte Anwärterin, die verhindert war, kommt aus einem Dorf, der Vater trinkt und ist krank. Der Verlauf ihres Studiums und ihre Zeugnisse werden von den Mentoren überprüft und den – noch zu findenden - Sponsoren mitgeteilt.

 

Am nächsten Tag fahren wir noch weiter in den Süden, nach Ritschow. Flache Felder, verwitterte Holzhäuschen und Zäune, manchmal blitzt ein hellblau gestrichenes Kirchlein, golden glänzen die Zwiebeltürmchen der (von einem Privatmann gespendeten) orthodoxen Kirche in Turow auf. Fröhlich pickende Hühner überall, eher unglücklich wirkende schwarze Kühe im Matsch hinter dem Viehzaun der Kolchosen sind zu sehen.

 

Wie sehen meine Ferienkinder Marina und Elena, deren Gastmutter ich letzten Sommer war, aus? Als wir an dem länglichen Schulgebäude in Ritschow ankommen, entdecke ich hinter den Fenstern die beiden aufgeregt winken. Und dann der Empfang, Borschtschsuppe, Lachsbrötchen, Frikadellen, Krautsalat, Kartoffelbrei und selbstgemachte Nussgipfel. Alles wurde in der neuen Küche, die 2013 eingerichtet wurde, hergestellt. Alle Küchengeräte werden fotografiert und überprüft. Etwa 100 Schüler und 25 Kindergärtler werden hier verköstigt. Die Kleinen dürfen wir festschlafend auf Hochbetten durch den Türspalt beobachten in der Mittagspause.

 

Im Computerraum gibt es 5 Computer, die gut genutzt werden (3 neue Geräte wurden 2013 vom Verein gespendet). Die Lehrerinnen wünschen sich Nähmaschinen, an denen Textilien genäht werden können mit den Schülerinnen. Im Musikunterricht spielt uns Marina auf einem alten Akkordeon vor, sie könnten auch neue Musikinstrumente gut gebrauchen.

 

Zum Dank für die gesponserte Küche backen die Küchenfeen eine Buttercremerosentorte für uns, bunt, fein und groß. Die Dankbarkeit für die deutschen Sponsoren und die Beschafferin der Fördergelder, Elena Denisova-Schmidt, ist groß.

Hedi hat jede Stunde gut geplant, deshalb telefonieren ihre Assistentin Julia und sie oft um die Wette, Hedi auf Deutsch und Julia auf Russisch. Da muss ja noch ein neuer Kühlschrank und neue Fenster für das Häuschen von Valentina, die krebskrank Zuhause leben muss, gekauft werden. Ihr Haus zu erreichen macht Alexander erfinderisch, damit er nicht im Schlamm oder in einem Loch des Geländes stecken bleibt. Die typischen Holzhäuschen sind mehr oder weniger gepflegt, das von Valentina Gaschnikowa jetzt mit der Hilfe des Vereins „Zukunft für Ritschow“ auch tapeziert, mit Vorhängen, Sesseln und einer Kücheneinrichtung gemütlich gemacht. Wenn Mittel vorhanden sind durch eine Spende, schaffen sich die Ritschower ein besseres Leben. In der Mitte ist auch – wie in allen anderen Häusern - ein hoher Ofen gemauert, der zentral alle Zimmer heizt.

Schwer atmend kommt Mama Olga Kowalewitsch in Hotchen vom Stall der Kolchose um uns zu sehen, ihre Tochter Katja studiert dank Sponsor. Bruder Wanja (mehrmals Gastkind in Deutschland) war als Schüler besonders schwierig, macht nun eine Schweißerausbildung. Er ist nun plötzlich ein guter Collegestudent, wird von seinen Lehrern gelobt und hilft seiner Mutter im und ums Haus (Olga hat sich endlich von ihrem schwer alkoholkranken Mann getrennt). Olga verdient knapp 300 € monatlich, dafür arbeitet sie 7 Tage die Woche von 4 Uhr morgens bis spät nachts, ohne Toilette und Waschgelegenheit am Arbeitsplatz, ohne Ferien, mit Lohnabzug bei Erkrankung einer Kuh. Die mitgebrachte Handcreme nimmt sie dankbar und zeigt die noch roten, aber gebesserten Hände. Sie wohnt in einem Haus der Kolchose, darüber ist sie froh, und mit dem Fahrrad aus Deutschland (eigentlich ein Jungenfahrrad für Wanja, das dem Verein gespendet wurde) kann sie besser zum Stall kommen. Eine tüchtige Frau ist diese Olga, die, auch unter diesen für uns ziemlich unvorstellbaren Bedingungen die Erziehung ihrer Kinder allein managt.

 

So gibt es viele berührende Geschichten, die sich durch die Hilfe des Vereins „Zukunft für Ritschow“ zu einem hoffnungsreicheren Leben oder Überleben in diesem Land durch einen Hoffnungsstrahl verändern.

 

Am Sonntag hat Hedi die Lehrerinnen von Ritschow zu einem Ausflug in die Sümpfe von Pripjet und ein Nationalparkmuseum eingeladen nach Ljaskowitschi. Die Straßen sind gut ausgebaut, die Zäune frisch gestrichen, denn diese Straße führt zu einem der
3 Präsidentenpaläste. Im Nationalpark können Auerhähne und andere Tiere gejagt werden. Im Museum wird die Geschichte des Landes gezeigt, Handwerk und Leben der Bewohner. Farbige Stickereien, handgewebte Leinentücher zeigen die Kunstfertigkeit, die heute noch besteht.

 

Katja war 21 Jahre alt und arbeitete auf dem Kartoffelfeld, als Tschernobyl explodierte. 120 km entfernt liegt Ritschow. Niemand hörte und wusste von der Gefährlichkeit des Unglücks. So treten jetzt fast 30 Jahre später, gehäuft Schilddrüsenerkrankungen, Krebs bei Frauen, Männern und Jugendlichen auf. Das ist eine große Sorge für die Bevölkerung. Und deshalb ist es so wichtig, dass der Verein Sponsoren für die Unterstützung des Krankenhauses bekommt.

 

Trotz eines strengen Tagesablaufs mit vielen Besuchen und oft belastenden Neuigkeiten fanden wir bei gemeinsamen Essen und Gesprächen Ausgleich am Abend. Den letzten Tag verbrachten wir in Minsk. Wir konnten das Elisabethenkloster, eine orthodoxe Kirche wie eine Erscheinung aus Tausendundeinenacht, besichtigen durch den Kontakt zur Sopranistin Anastasija Chrapizkaja, deren Vater Pope dort ist. „Weiße“ und „Schwarze Schwestern“ (die schwarzen Schwestern haben das Gelübde abgelegt) betreuen 2000 psychisch Kranke in einem klostereigenen Hospital, andere Kranke und Waisen in verschiedenen Häusern werden von den Schwestern besucht unterstützt. Wir dürfen ein Fastenmahl im malerischen Klostersaal genießen.

 

Minsk, die Hauptstadt von Belarus, ist eine moderne Stadt und steht im Gegensatz zur ländlichen Situation in Ritschow. Das Studentenwohnheim, in dem Julia wohnt, sieht außen gut aus aber innen zeigen sich erhebliche Mängel. Julia schließt im Juni ihr Ökonomiestudium ab, sie hat mit ihren 20 Jahren eine steile Schul- und Unikarriere gemeistert. Als Vorsitzende des Vereins in Belarus leistet sie vorzügliche Arbeit und hat sich ein weiteres Mal als gute Managerin bewiesen.

 

Diese Reise hat mir gezeigt wie wichtig es ist, schon den Kindern durch die angebotenen Ferienfreizeiten in Deutschland eine Alternative zu ihrem Alltag zu bieten. So kann die Entwicklung von Talenten und Fähigkeiten erst beginnen. Alle Augen der ehemaligen Ferienkinder leuchten in Erinnerung an die in Deutschland verbrachte Zeit.

 

Und auch meine Augen leuchten von den warmen Begegnungen mit diesen liebenswerten Menschen auf meiner ersten Reise nach "Bella Russ".

 

Renate Griesser, Görwihl, 16. April 2014